kunst. regie. bühne.
ein Familienleben für die Kunst
eine Recherche 2023
Zusammen mit meiner Tochter besuchte ich 2019 eine Vorstellung des Circus Feraro, dabei lernten wir die ganze Zirkusfamilie kennen. Seit dem hat sich eine Freundschaft und künstlerische Zusammenarbeit entwickelt. Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr in einem Zirkus gewesen und war sofort wie verzaubert. Vom Geruch, den Lichtern, den Artisten in der Kuppel. Einem Orchester der verschiedensten Eindrücke. Sofort kamen Erinnerungen aus meiner Kindheit hoch: Zum Beispiel als der Circus Krone Ende der 70er Jahre mit dem Zug in meiner Heimatstadt Freising ankam und ich das Ausladen und den Zeltaufbau beobachten konnte. Oder an die Sendung „Stars in der Manege“ die ich zusammen mit meinen Geschwistern immer an Silvester anschauen durfte. Ich sah mich wieder als kleinen Junge mit Popcorn im Zelt des Circus Baldoni auf dem Parkplatz eines Möbelhauses. Völlig fasziniert von den Clowns, dem Zauberer und dem Fakir auf dem Nagelbrett. Ich erinnerte mich an meine Zeit als Bühnenbildassistent am Schauspiel Frankfurt als ich für eine Inszenierung der Choreografin Wanda Golonka bei einem Wanderzirkus ein Kamel organisierte. Während des Corona- Lockdowns strandete der Circus Feraro in der Nähe von Hallbergmoos, dem Ort in dem ich mit meiner Familie lebe. Seit dem besuche ich regelmäßig die Familie Feraro, wir sprechen über die Probleme, die Bedrohungen und die Zukunft der bunten Zirkuswelt, den Niedergang der Zirkusse in der DDR, über Theater, die Unterschiede, die Gemeinsamkeiten. Für mich als Theatermacher ist das die Quelle neuer Inspiration, jenseits der Staatsbetriebe. Bei Corona fielen die Zirkusse durch fast alle Raster. Zirkus besitzt nicht die gleiche Lobby, wie Kino, Oper oder die Staatstheater.
Der Circus Feraro ist einer der letzten europäischen Familienzirkusse und wird, in der sechsten Generation, seit fast 40 Jahren von Zirkusdirektor Hermann Schmidt- Feraro geleitet. Bis ins späte 19. Jahrhundert reicht die Geschichte des kleinen Traditionszirkus zurück. Der Künstlername Feraro erinnert an die Großmutter von Hermann Schmidt- Feraro. Sie entstammt der italienischen Zirkusdynastie Orfei, gehörte der ethnischen Minderheit der Sinti an und war die Schwester von Moira Orfei, der berühmten Zirkusleiterin,- artistin, Schauspielerin und Freundin von Frederico Fellini. Die Familie Feraro hat keinen festen Wohnsitz und lebt völlig nomadisch. Immer wieder wird sie deswegen von Seiten unserer seßhaften bürgerlichen Gesellschaft stigmatisiert. Heute vereint der Zirkus drei Familien mit insgesamt 27 Personen. Alle zehn Kinder von Hermann Schmidt- Feraro und seiner Frau Leni sind Zirkusartisten, jeder widmet sich einer eigenen Disziplin und übernimmt eine bestimmte Aufgabe. Alle Entscheidungen des Unternehmens werden zusammen, demokratisch von den Familienmitgliedern getroffen. Und das immer gemeinsam im Zelt. Die Manege wird zum Forum, zum Diskussionsort der Familienpolitik. Die Familie Feraro präsentiert ein zweistündiges modernes Circus-Programm in und über der Manege. Akrobatik, Tiernummern sowie Clownerie wechseln sich ab. Im Sinne des Tierschutzes verzichten sie auf jegliche Haltung exotischer Tiere und beschränken sich auf zwei Pudel, Ziegen und Pferde. Ich beobachte, einen besonderen Umgang mit den Tieren. Sie haben den gleichen Stellenwert wie ein Familienmitglied, wie ein Artist. Neu für mich war, dass Zirkusnummern, wie z.B. die „Flaschenpyramide“ von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Artistin Sissy Feraro erbte die Nummer von ihrer Großmutter und Mutter und erlernte dieses komplexe akrobatische Kunststück bereits mit fünf Jahren. Neben den Nachmittags- und Abendvorstellungen an den Gastierorten bietet die Familie Feraro auch zirkuspädagogische Workshops in Kindergärten, Schulen, Einrichtungen für behinderte Menschen und Seniorenheimen an. In den Workshops wird Kindern, Jugendlichen und Senioren*innen durch eigene Erfahrungen die Zirkusarbeit erlebbar gemacht. Die Familie Feraro versteht Zirkus als ein lebendiges Gesamtkunstwerk in dem das Publikum oder Workshopteilnehmer*innen die Magie und Poesie eines Zirkus nicht nur erleben sondern erfahren sollen.
1. Boden
Kriege werden meistens um Boden geführt. Nomaden besitzen keinen Boden, sie kennen keine Grenzen und das stellt eine Bedrohung für den Seßhaften dar,
sie werden zur Projektionsfläche für die Ängste des Bürgers. Dieses Phänomen fand ich auch in anderen Ländern, wie in Burkina Faso zwischen den nomadischen lebenden Fulani und der bäuerlich geprägten Kultur der Mossi oder bei Gesprächen mit samischen Filmemachern in Norwegen auf meiner Reise ans Nordkapp.
2. Arbeit und Bildung
Artistische Arbeit gilt dort als keine Arbeit. Da stellt sich mir sofort die Frage: ist Spielen Arbeit? Und es erinnert mich an Rainer Werner Fassbinders Worte die nicht unter den Begriff Arbeit fallen: Spielen, gähnen, grübeln, schlafen……. Das wirft bei mir die Frage auf: was ist Bildung? Das wertvolle Können der Artisten, das Verständnis für Tiere, die Organisation einer Tournee oder die Kompetenz ein Zirkuszelt aufzubauen, gilt nichts im bürgerlichen System. Wieviele Verbindungen von zahlreichen Händen, Kräften, Hirnen, Temperamenten, Erfahrungen müssen mit einander verknüpft werden um ein Zelt aufzubauen? Nur mit vereinten Kräften kann das Ziel erreicht werden.
3. Nomadisches Denken.
In der Mitte des Zeltes bildet die Manege einen Kreis. Alle sitzen Schulter an Schulter drumherum, hier gibt es keine durch den Orchestergraben geschützte Logenplätze. Wird da der Zirkus nicht zur Metapher für das Leben im Anthropozän, wo die dringlichsten Fragen des Planeten uns alle angehen. Zirkus als ein Sinnbild unserer Welt, in der alles mit einander zusammenhängt. Verknüpft in vielschichtigen Netzwerken. Müssten wir Menschen nicht über uns hinausgehen, so wie die Artisten in der Kuppel über ihren Körper hinausgehen, um die enormen Herausforderungen auf unseren Planeten zu bewältigen? Versagen wird im Zirkus nicht geduldet, schreibt Alexander Kluge. Sind wir nicht alle Seiltänzer? Ist der Lebensweg nicht ein ständiger Balanceakt? Das nomadische Zirkusleben ist hart in der Welt der Seßhaften. Zirkus bildet den Gegenpol zum Bürger. Was kann ich, ein seßhafter Bürger vom Zirkusleben lernen? Erfordert das nomadische Leben nicht eine hohe geistige Beweglichkeit? Besteht in Zeiten von Krieg nicht die Gefahr der gedanklichen Erstarrung? Könnte uns nomadisches Denken davor schützen? Zirkus hat etwas mit Offenheit und Freiheit zu tun.
4. Mikrokosmos, Familie und Zukunft
Ist Zirkus nicht ein außerhalb der Gesellschaft existierender eigener Mikrokosmos? Stehen in dieser kosmopolitische Lebensweise nicht die Kunst und die Fähigkeiten im Vordergrund und nicht Herkunft oder Religion einer Person? Wird in diesem Zusammenleben verschiedener Menschen, mit und ohne Behinderung, Tieren, nicht die Diversität des Lebens versinnbildlicht? Im Zirkus wird der staubige Vorhang des Alltags zur Seite gezogen und wir sehen eine neue Welt. Heiterkeit ist das bestimmende Grundgefühl. Wir sehen eine verrückte Welt aus Episoden und Fakes. Zirkus folgt wie das Theater dem Prinzip der Echtheit.
„Das Projekt wird gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien“